L. Criblez u.a. (Hrsg.): Lehrerbildungspolitik in der Schweiz seit 1990

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Titel
Lehrerbildungspolitik in der Schweiz seit 1990. Kantonale Reformprozesse und nationale Diplomanerkennung


Herausgeber
Criblez, Lucien; Lehmann, Lukas; Huber, Christina
Reihe
Historische Bildungsforschung (1)
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
von
Sebastian Brändli

Wer sich nach sozial- und politikwissenschaftlichen Studien zur Schweiz umsieht, trifft meistens auf gegenwartsbezogene, empirische (statistisch basierte) Studien über nationale Themen oder Forschungsobjekte. Historische Untersuchungen, die die föderale Verfassung mitreflektieren, also zum Beispiel die kantonale Ebene miteinbeziehen oder diese gar zum Hauptthema machen, sind selten. Am ehesten sind solche für den Bildungsbereich zu erwarten – und damit befasst sich auch der vorliegende Band. Im Zuge der Fachhochschulbewegung ist in den 1990er Jahren auch Bewegung in die Lehrerbildung und Lehrerbildungspolitik gekommen – und damit in einen Bereich, der traditionell der kantonalen Bildungshoheit zugerechnet wird und vorwiegend kantonal organisiert ist. Diese Rahmensetzung macht das Unterfangen komplex: Der gesamten Dynamik in ihren nationalen, interkantonalen und kantonalen Bezügen gerecht zu werden, ist fast unmöglich.
Umso erfreulicher ist, dass es den Autorinnen und Autoren gelungen ist, das Thema als Ganzes einzufangen und wichtige Dimensionen des Wandels in der Lehrerbildungspolitik der Schweiz zu eruieren und darzustellen. Dies gelingt nicht zuletzt dank der klugen Organisation des Bandes: Einem einleitenden, auch der Steuerungsthematik staatlicher Leistungen und der Vorgeschichte gewidmeten Teil folgt eine Serie von mehr oder minder chronologisch strukturierten Fallbeispielen. Auf interkantonaler Ebene wird die Rolle der Erziehungsdirektorenkonferenz EDK betrachtet, und es werden sieben kantonale Konstellationen dargestellt (Aargau, Bern, Freiburg, Genf, St. Gallen, Zürich und Zug). Im dritten Teil folgen unter dem Titel «Synthesen» vier thematische Fragen, und das Fazit der Herausgeber schliesst den Band ab. Die Anlage – Fallbeispiele chronologisch, quer dazu vier Syntheseinputs – vereinfacht das komplizierte Ganze so weit, dass tatsächlich angesichts der (zu) zahlreichen Details der Fallbeispiele wesentliche inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Wandels erkennbar werden. Selbstverständlich werden Basler, Tessinerinnen oder Luzerner ihre kantonalen oder interkantonalen Fallbeispiele vermissen, und selbstverständlich werden mit den vier gewählten Synthesesträngen nicht alle thematischen Fragen abgedeckt: Angesichts der ohnehin zu grossen Fülle von Daten ist die Einschränkung sowohl der kantonalen als auch der theoretischen Einzelentwicklungen aber absolut vertretbar.
Fürs Verständnis der über zwei Jahrzehnte dauernden Entwicklung der schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerbildung und ihrer Politik sind die vier gewählten Synthesestränge zentral. Lukas Lehmann analysiert den Aspekt der Tertiarisierung und der damit verbundenen Akademisierung, Christina Huber deutet die Reformen als Integrations- und Konzentrationsprozess, Lucien Criblez geht der Frage der Forschung im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung nach, und zum Schluss wendet sich Lehmann der Frage der Autonomie der pädagogischen Hochschulen zu. Diese vier Fragekomplexe: Tertiarisierung, Konzentration, Forschung (Leistungsauftrag) und Autonomie sind gut gewählt und decken die durch die Ziele und den Wandel entstandenen Probleme und Herausforderungen in hohem Masse ab. Der Umstand, dass der Wandel der Lehrerbildung seit 1990 in vielen Punkten als noch nicht abgeschlossen bezeichnet werden kann, und die zahlreichen kantonalen und regionalen Unterschiede machen eine abschliessende Bilanz allerdings schwierig, wenn nicht unmöglich.
Auch passiert es manchmal, dass dem am Geschehen interessierten Zeitgenossen wichtige Differenzen durch Begriffswahl oder Kategorisierung übergangen scheinen, oder auch umgekehrt, dass Entwicklungen mit wenigen Argumenten als unterschiedlich dargestellt werden, obwohl sie auch Kohärenz aufweisen. Zwar wird dem Faktum, dass die Lehrerbildung derjenige Hochschulbereich mit den deutlichsten kantonalen Bezügen (und wohl auch Interventionen) ist, viel Aufmerksamkeit geschenkt, die Interdependenz zwischen kantonalem Föderalismus und dem Auf- respektive Ausbau der institutionellen Ebene kommt aber letztlich zu wenig zur Sprache. Dieser starke kantonale Bezug hat zuweilen grossen Einfluss auf die Fragen der (vor allem inneren) Tertiarisierung, der Konzentrationsprozesse (insbesondere der verhinderten) und der Autonomiegewährung. Vor allem in kleineren Kantonen dürften sich unvollständige Tertiarisierung und kleinere Autonomiespielräume für pädagogische Hochschulen deshalb ergeben, weil diese Kantone wegen Fehlens anderer Hochschulen keine eigenständige Hochschul-, sondern lediglich eine Lehrerbildungspolitik entwickeln müssen. Deren Institutionen richten sich dann stark am Schulsystem des Trägerkantons aus und können aufgrund ihrer Kleinheit nur über eine Nischenpolitik ein eigenes Profil erringen. Aber auch bei den Kantonen mit grossen Institutionen sind in den genannten Synthesesträngen teilweise deutliche Unterschiede zu erkennen – auch diese dürften wesentlich auf Aspekte des kantonalen Föderalismus beziehungsweise auf unterschiedliche politische Kulturen zurückzuführen sein.
Ein leicht irritierender Punkt sei noch kurz vermerkt: Wer ausgehend vom Untertitel des Buches eine gleichgewichtete Analyse von kantonalen und nationalen Prozessen erwartet, dürfte enttäuscht werden. Die «nationale Diplomanerkennung » – «national» verweist in diesem Falle nicht auf den Bund, sondern auf die EDK – wird zwar an mehreren Orten als wichtige Rahmenbedingung und teilweise auch als Katalysator der Reform angesprochen, zum eigenständigen Thema des Bandes wird sie allerdings nicht gemacht.
Die Herausgeber verweisen im Vorwort auf das Konzept der «losen Koppelung» des amerikanischen Soziologen Karl E. Weick. Will man die ganze Entwicklung in der Schweiz über die beobachtete Periode überblicken, so stellt man sicher mit Recht im Einzelnen nur sehr lose Verbindungen fest. Das verhindert aber nicht, dass im Sinne ähnlicher Rahmenbedingungen und auch des Zeitgeistes die Akteure der Lehrerinnen- und Lehrerbildungspolitik in den Kantonen doch recht einvernehmlich und koordiniert gehandelt haben und dass letztlich auch ein recht kohärentes System der schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerbildung entstanden ist. Dieses Gesamtgemälde skizziert der vorliegende Band kenntnisreich und farbig. Über die Akteure der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hinaus verdient er viele Leserinnen und Leser.

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: Lucien Criblez, Lukas Lehmann, Christina Huber, Lehrerbildungspolitik in der Schweiz seit 1990. Kantonale Reformprozesse und nationale Diplomanerkennung, Zürich: Chronos Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 508-510.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 508-510.

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